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Sorge für Dich selbst – Michel Foucault

Verantwortlicher Autor: Kurt Lehberger Frankfurt am Main, 08.10.2025, 17:20 Uhr
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selbstreflektierender Mensch
selbstreflektierender Mensch  Bild: Kurt Lehberger

Frankfurt am Main [ENA] In „Hermeneutik des Subjekts“ von Michel Foucault (1926 - 1984) ist eine Abhandlung zum Thema „Sorge für Dich selbst“. Die wesentlichen Aussagen sind hier zusammengefasst. Man muss sich das ganze Leben über um sich selbst kümmern. Ganz besonders im Alter.

Im Alter bereitet sich der Mensch auf die Vollendung des Lebens vor. Es ist die Zeit, wenn das Leben selbst zu Ende geht. In dem Dialog von Sokrates mit Alcibiades sieht Foucault „die Sorge um sich selbst“ in der Vollendung der Selbsterkenntnis, im Zugang zur Wahrheit und darin, das Göttliche in einem selbst zu erkennen. (A S. 107). In der griechischen Antike sind es im Allgemeinen die jungen Aristokraten, die dazu bestimmt sind, höhere Ämter einzunehmen und Menschen zu führen, die sich um sich selbst sorgen sollen. Alcibiades, ist einer von ihnen. Er soll in Zukunft die Polis führen. Sich um sich selbst sorgen, heisst sich selbst erkennen.

Selbstzwecksetzung, die Sorge um sich selbst bezieht sich auf den Gegenstand des Selbst. Ziel und Zweck ist das Selbst, also die Beziehung des Selbst zu sich selbst. Der Dialog zwischen Sokrates und Alcibiades ist die erste Theorie des Selbst. Die Subjektivität erhält erstmals ihre eigene Bedeutung. Der Begriff “epimeleia heautou” steht für „Sorge um sich selbst“. Epimeleia sind die nützlichen Praktiken, die wie Übungen im Training des Körpers eingesetzt werden, um eine umfassende Erkenntnis des Selbst zu erreichen. Erstens: man muss seine Aufmerksamkeit auf sich selbst richten. Weitere Mittel sind: sich selbst einzurichten, d.h. die Wohnung, das Zimmer so funktional auszustatten, dass die Selbsterkenntnis gefördert wird.

Man muss sich, wenn Abhängigkeiten oder Knechtschaft bestehen, davon selbst befreien. Man muss sich selbst verehren, sich selbst achten, vor sich selbst Scham empfinden. (A S. 116). Foucault erwähnt die medizinische Dimension: „Die permanente medizinische Versorgung ist eines der zentralen Merkmale der Selbstfürsorge. Man muss sein eigener Arzt werden.” Neben der Meditation ist Gymnasia („sich trainieren“) ein Mittel, um das Selbst zu stärken. (B S. 19) Nach Foucault erlangt ein Subjekt Zugang zur Wahrheit durch Praktiken der Selbstfürsorge (Sorge für Dich selbst) – Praktiken, die eine Selbsttransformation erfordern.

Das Gebot, „sich um sich selbst zu kümmern“, war für die Griechen eines der Hauptprinzipien der Städte, eine der wichtigsten Regeln für soziales und persönliches Verhalten und für die Lebenskunst. (B S. 19) Sokrates fordert, kümmert euch um euch selbst, das heißt um „Weisheit, Wahrheit und die Vollkommenheit der Seele“! Denn, indem Sokrates die Menschen lehrt, sich mit sich selbst zu beschäftigen, lehrt er sie, sich mit der Stadt (poli) zu beschäftigen. (B S. 20) Was ist dieses Selbst? Ich bin meine Seele. (A S. 80). Philosophieren ist „für seine eigene Seele sorgen“ und damit das Ziel, das Erreichen der Glückseligkeit, zu verwirklichen. Das gilt für alle Lebensabschnitte, egal ob man jung oder alt ist.

Der junge Mensch bereitet sich auf das Leben vor, der alte philosophiert, um sich jung zu halten, sich dem Zugriff der Zeit zu entziehen, die Zeit umzukehren und sich an die Vergangenheit zu erinnern. Die Erinnerungen werden neu durchdacht, geordnet und eingeordnet. Es ist ein Dialog mit sich selbst. Man muss die reale Situation durch einen inneren Dialog antizipieren. Die philosophische Meditation besteht darin, sich Antworten zu erinnern und diese Erinnerungen wieder zu aktivieren, indem man sich in eine Situation versetzt, in der man sich vorstellen kann, wie man reagieren würde. (B S. 36)

Im Dialog zwischen Lycinus und Hermotimos erfahren wir, dass Hermotimos das Leben in vier 20 Jahre dauernde Abschnitte aufteilt. Es sind Kindheit und Jugend, das Alter des Heranwachsenden (20 – 40 Jahre) und ab 40 Jahre das junge Erwachsensein, ab 60 Jahre ist man ein Greis. (A S.125). Hermotimos hatte über 20 Jahre einen Coach (Philosoph, Psychotherapeut), um den Erfolg des „Um sich selbst sorgen“ zu optimieren. Die „Coaches“ waren Vertreter von Schulen der Philosophie, die gegen Geld Hilfe in der Erkenntnis anboten. Es wurden Praktiken vermittelt, die es erlauben, die Widrigkeiten des Lebens besser zu ertragen und Sicherheitsmechanismen, um das Selbst zu schützen oder vorzubereiten, Niederlagen oder Missgeschicke zu ertragen. (A S. 126).

Die Selbstpraxis gibt uns die Fähigkeit die Fehler, die bereits in der Jugend bestehen, zu korrigieren und zu heilen. Es ist eine Befreiung von Gewohnheiten, ein Entkrusten von all dem, was in der frühen Kindheit vorgefallen ist. (A S. 128). Die Therapeuten oder Coaches pflegen das Sein und die Seele (pratique de l’ame). (A S. 133). Die Sorge um sich selbst, dehnt sich auf das ganze Leben aus. (A S. 117). Im Lebensabschnitt vor dem Erwachsensein sind die Themen Erziehung, Erotik (Gegenstand der Begierde in der Knabenliebe bei den Griechen zu sein) und Politik, das nach außen treten und sich aktiv einbringen, die im Vordergrund stehen.

Acht Jahrhunderte später findet man denselben Gedanken und denselben Ausdruck in Gregor von Nyssa's (335-394) Abhandlung über die Jungfräulichkeit. (B S. 21). „Um die Wirksamkeit wiederzuerlangen, die Gott der Seele eingeprägt hat und die der Körper getrübt hat, muss man auf sich selbst achten und jeden Winkel der Seele erforschen.“ (De virginitate, S. 12). Die christliche Askese steht ebenso wie die antike Philosophie im Zeichen der Praxis „Um sich selbst sorgen“. Die Verpflichtung, sich selbst zu erkennen, ist eines der zentralen Anliegen dieser Askese. Zwischen diesen beiden Extremen – Sokrates und Gregor von Nyssa – war das Um-sich-selbst-kümmern nicht nur ein Prinzip, sondern auch eine ständige Praxis. (B S. 21).

In der theoretischen Philosophie von Descartes bis Husserl hat die Erkenntnis des Selbst (des denkenden Subjekts) als erster Schritt in der Erkenntnistheorie eine immer größere Bedeutung erlangt. Epimelesthai - die Sorge für sich selbst - drückt etwas viel Ernsthafteres aus als die einfache Tatsache, aufmerksam zu sein. Es umfasst u. a. sich um seinen Besitz und seine Gesundheit zu kümmern. Epimelesthai ist immer eine echte Handlung und nicht nur eine Haltung. Du musst dich um deine Seele kümmern – das ist die wichtigste Aufgabe, wenn es darum geht, für dich selbst zu sorgen.

Das Streben der Seele, sich selbst zu erkennen, ist das Prinzip, auf dem gerechtes politisches Handeln beruhen kann, und Alcibiades wird insofern ein guter Politiker sein, als er seine Seele im göttlichen Licht betrachtet. (B S. 26). Plinius rät einem Freund, sich jeden Tag ein paar Minuten oder mehrere Wochen oder Monate Zeit zu nehmen, um sich in sich selbst zurückzuziehen. B S. 26) Sich um sich selbst zu kümmern, wurde mit ständiger schriftstellerischer Tätigkeit verbunden. Das Selbst ist etwas, worüber man schreibt, ein Thema schriftstellerischer Tätigkeit.

Ein gutes Beispiel von Selbstreflexion sind die Bekenntnisse von Augustinus von Hippo (354 - 430). Im Christentum spielt die Sorge um sich selbst eine Rolle. Augustinus schreibt: Quis facit veritatem - die Wahrheit in sich selbst finden, um so den Zugang zum Licht zu erhalten. (B S. 25). In der Antike 4. Jahrhundert v. unserer Zeit schrieb Platon ein fiktives Gespräch zwischen dem Philosophen Sokrates und dem noch nicht zwanzigjährigen Alcibiades auf.

Auszug aus dem Dialog: Sokrates spricht „Der Arzt kennt den Körper, und der Handwerker kennt sein Handwerk, aber sie kennen nicht unbedingt sich selbst. Selbsterkenntnis kann nur erlangt werden, indem man in den Geist und die Tugend der Seele blickt, die der göttlichere Teil des Menschen ist, so wie wir unser eigenes Bild in den Augen eines anderen sehen. Und wenn wir uns selbst nicht kennen, können wir nicht wissen, was uns selbst gehört und was anderen gehört, und sind ungeeignet, an politischen Angelegenheiten teilzunehmen.“

Quellen: A: Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt am Main 2004; B: Foucault, Michel. “Technologies of the Self.” Lectures at University of Vermont Oct. 1982, in Technologies of the Self, 16-49. Univ. of Massachusetts Press, 1988.

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